Abstand rettet Leben: Wenn das Virus die Aggression verdrängt, wird plötzlich Platz für Toleranz

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Platz da, jetzt komm ich! Koste es, was es wolle. Möglicherweise Leib und Leben anderer. Mitunter auch das eigene. Hauptsache, man ist die Hauptsache. Oder besser: Mann ist die Hauptsache. Drängeln auf der Autobahn, ein mehrheitlich männliches Hobby, ist derzeit mega-out. Ja, es hat sich ausgedrängelt. Weit und breit kein Kolonnenverkehr, nur vereinzelt ziehen Menschen auto-mobil ihrer Wege.

DI Klaus Robatsch: „Rücksichtnahme im Straßenverkehr ist besonders wichtig und rettet Leben“ Foto: KFV

Stress rund um die Uhr war gestern: Entschleunigung auf allen Kanälen – so lautet das neue Motto für die meisten von uns. Die permanente Hetzjagd von A nach B ist aktuell passé. Innehalten ist angesagt – wenn auch unfreiwillig und wirtschaftlich problematisch. Das Gute an der Corona-Krise: Unser ökologischer Fußabdruck wird kleiner, unsere Menschlichkeit spürbar größer – wenn man Mitmenschen nur vereinzelt auf der Straße antrifft. In- und außerhalb von Fahrzeugkabinen.

 Kuschelkurs, adé!
Ja, die passionierten Drängler auf der Autobahn vermisst man nicht wirklich. Auch wenn ihre Omnipräsenz langjährige Gewohnheit war. Zum Beispiel auf der Wiener Außenringautobahn. Wenn man morgens um halb acht den sanften Hügel hinab in Richtung Hauptstadt fuhr, wurde kräftig aufgefahren. Auf allen Spuren gleichermaßen. Was das Zeug hielt. Selbst dann, wenn die Tachonadel schon 10-15 km/h über dem erlaubten Tempolimit schwebte. Nein, nicht nur Steuermänner in Personenkraftwagen zeigten sich da anlehnungsbedürftig, auch Lkw-Lenker fuhren auf Kuschelkurs. Tag für Tag. Stoßstange an Stoßstange. Dicht an dicht – als wären sie selbst nicht ganz dicht.

Verdrängte Drängler
In diesem Frühling ist alles anders auf unseren Straßen. Wie auch sonst überall alles anders ist. Irgendwie surreal und irgendwie schön, dieses stressbefreite Siebziger-Jahre-Feeling am Steuer. Wo sind sie, die Drängler und Verdränger? Einfach weg. Verdrängt von einem aggressiven Virus. Völlig absurd und doch Realität, dass dieses mikroskopisch kleine Etwas unsere alte Welt aus den Angeln hebt – und dabei nicht nur Chaos und Leid schafft. Ja, diese Freude ist relativ, angesichts der Bedrohung von Gesundheit und Wirtschaft. Und man vermisst schmerzlich Familie und Freunde, feiert Geburtstage im allerkleinsten Kreis. Und freut sich wiederum, dass man sie überhaupt feiern kann. In dramatischen Zeiten wie diesen.

Zurück in die Zukunft

Wie wird es sein, wenn wieder die Schule beginnt? Wenn Kinos, Restaurants und Geschäfte öffnen, wenn Büros und Produktionsstätten wieder betriebsam sind und Mobilität wieder das ist, was sie vor 2020 war? Aber halt: Wird sie wieder wie früher sein? Wird überhaupt irgendetwas so sein wie davor? Oder werden wir dieses erleichternde Gefühl der Entschleunigung vielleicht sogar beibehalten wollen? Werden wir mehr Rad fahren, Zug fahren, zu Fuß gehen? Werden wir mehr von daheim arbeiten, weil uns das Home-Office ans Herz gewachsen ist und nicht nur die Work-Life-Balance verschönt, sondern auch gleich Umwelt und Geldbörse schont?

Abstandhalten rettet Leben
Und haben wir auch in Sachen Sozialkultur dazugelernt? Beim monatelang praktizierten Abstandhalten gelernt, emotional zusammenzuwachsen? Und wie. Scheinbar paradox und doch gelebte Praxis: Wir waren räumlich voneinander getrennt und sind doch seelisch näher gerückt. Was uns Corona gelehrt hat, sind Respekt und Rücksichtnahme, Achtung vor dem Leben und Aufmerksamkeit. Wie wunderbar wäre es doch, wenn nur ein Funken dieser neuen Erfahrung auch für den Straßenverkehr der Zukunft bliebe! Weil wir nun wissen, dass Abstandhalten Leben retten kann – und das tut es schließlich auch auf der Straße. Denn hier gilt erst recht das Gesetz der Physik: Wo ein Körper ist, kann kein anderer sein. Fazit: Wir fahren mit Abstand am besten.

Neue Horizonte
Die Statistik der Corona-Monate zeigt: Die Zahlen der Verkehrsunfälle gingen zurück – im Ortsgebiet, im Freiland, auf der Autobahn. Weil die Autos meist vor dem Haus und in der Garage standen. Weil Gleiten statt Hetzen angesagt war. Weil aus Rushhours Mußestunden wurden. Weil der Himmel wieder blau und der Horizont wieder weit wurde und Raum für entspannende Leere entstand.

Vielleicht wird die Straße vom aggressionsbetonten Risikorevier schon bald wieder zum Lebensraum und verlangsamten Ort der Begegnung – besonders für Fußgänger, Radfahrer, Schulkinder, Senioren. Denn wenn das Virus die Aggression verdrängt, wird plötzlich Platz für Toleranz und neue Perspektiven. Für den Blick auf die wesentlichen Dinge des Lebens. Und für vernunftbetonten Fernblick, ganz weit über Lenkrad und Tellerrand.