Begegnungszonen im Praxistest: Neuer Leitfaden unterstützt Gemeinden bei der Wirksamkeitsevaluierung

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Begegnungszonen erfreuen sich in Österreich zunehmender Beliebtheit – doch wie gut funktionieren sie tatsächlich im Alltag? Wie wirken sie sich auf das Verkehrsgeschehen, das Sicherheitsempfinden und die Aufenthaltsqualität aus? Diesen Fragen ging das Kuratorium für Verkehrssicherheit (KFV) in einer umfassenden Studie nach. Das Ziel: Die Entwicklung eines praxisorientierten Leitfadens, der es Gemeinden ermöglicht, die Wirkung ihrer umgesetzten Begegnungszonen objektiv und kosteneffizient zu bewerten.

Die Studie – durchgeführt in Kooperation mit drei österreichischen Gemeinden – liefert erstmals systematisch erhobene Vorher-Nachher-Daten. Diese bilden die Grundlage für den neuen Evaluierungsleitfaden „Lebensraum Straße: Bereit für die Begegnungszone?“, der ab sofort öffentlich verfügbar ist.

Ausgangslage: Raum fair teilen – aber wie?
Begegnungszonen sind laut StVO Verkehrsflächen, in denen der nicht-motorisierte Verkehr gestärkt und der öffentliche Raum fairer aufgeteilt werden soll. Fußgänger*innen dürfen die gesamte Fahrbahn nutzen, Autofahrende müssen sich rücksichtsvoll verhalten, Tempo 20 ist Standard. Doch der Erfolg dieser Maßnahme hängt stark von der lokalen Umsetzung ab – von der Gestaltung des Straßenraums bis zur Verkehrsorganisation.

Bisher fehlte eine systematische Methode zur Bewertung, ob Begegnungszonen ihre Ziele tatsächlich erreichen. Genau hier setzt das KFV-Projekt an: Mit drei Pilotgemeinden – Purgstall an der Erlauf, Schörfling am Attersee und Wattens – wurde das Verkehrsgeschehen vor und nach der Einführung einer Begegnungszone detailliert analysiert.

Studienergebnisse: Zwischen Verkehrswende und Wirklichkeit
Die Vorher-Nachher-Untersuchungen in Purgstall an der Erlauf, Schörfling am Attersee und Wattens erlauben einen einzigartigen Einblick in die tatsächliche Wirkung von Begegnungszonen unter realen Bedingungen. Die Erhebungen wurden über mindestens zwei Tage bzw. mehrere Stunden durchgeführt – sowohl mit technischen Messungen (Seitenradar, Videobeobachtung) als auch durch Befragungen der Bevölkerung.

Die wichtigsten Ergebnisse im Überblick:

  • Verkehrsberuhigung messbar gelungen: In allen drei Gemeinden ging das motorisierte Verkehrsaufkommen deutlich zurück. In Purgstall sank die durchschnittliche Verkehrsmenge um 49 Prozent, das Schwerverkehrsaufkommen sogar um über 50 Prozent. Auch in den anderen Gemeinden wurden vergleichbare Rückgänge verzeichnet – trotz unterschiedlicher Maßnahmenintensität.
  • Fahrgeschwindigkeiten deutlich reduziert: Die mittlere Geschwindigkeit (vMittel) sank in Purgstall von 29 km/h auf 19 km/h, die v85-Geschwindigkeit (d. h. die Geschwindigkeit, die 85 % der Fahrzeuge nicht überschreiten) sogar um 37 Prozent. Diese Reduktion ist ein zentraler Faktor für die Erhöhung der Verkehrssicherheit, insbesondere für ungeschützte Verkehrsteilnehmende.
  • Zunahme der Aufenthaltsqualität – aber Sicherheitsgefühl sinkt leicht: Befragungen zeigten, dass sich nach Einführung der Begegnungszonen mehr Menschen gerne im Straßenraum aufhalten. In Purgstall bewerteten die Befragten die Aufenthaltsqualität im Durchschnitt 2,5 Punkte höher (auf einer Skala von 0–10). Gleichzeitig sank das subjektive Sicherheitsempfinden bei zu Fuß Gehenden leicht – möglicherweise durch fehlende bauliche Abgrenzungen oder Unsicherheiten in der Verkehrsregelung.
  • Verändertes Querungsverhalten mit Potenzial: Die Hoffnung, dass zu Fuß Gehende die gesamte Fahrbahn verstärkt nutzen würden, bestätigte sich nur teilweise. Viele Querungen konzentrierten sich weiterhin auf frühere Zebrastreifen oder vertraute Stellen. Dennoch zeigte sich, dass Querungen tendenziell flächiger wurden – insbesondere in Bereichen mit veränderter Gestaltung oder verlagerten Haltestellen.
  • Rückgang von Interaktionen und Konflikten: Trotz des höheren nicht-motorisierten Anteils kam es nicht zu einer Zunahme von Konflikten. In Purgstall etwa wurde kein einziger Verkehrskonflikt beobachtet, sowohl vor als auch nach der Umsetzung der Begegnungszone. Der Rückgang des Kfz-Aufkommens spielt hierbei eine zentrale Rolle.

Diese Ergebnisse unterstreichen: Begegnungszonen können einen wertvollen Beitrag zu einem sicheren, fairen und attraktiven Straßenraum leisten – wenn sie gut geplant und umgesetzt werden.

Der neue Leitfaden: Ein Werkzeug für evidenzbasierte Gemeindearbeit
Aus den gewonnenen Erkenntnissen wurde ein umfassender Leitfaden zur Evaluierung von Begegnungszonen entwickelt – ein praktisches Hilfsmittel für alle, die Verkehrsmaßnahmen nicht nur umsetzen, sondern auch bewerten und verbessern wollen.

Das bietet der Leitfaden:

  • Klar definierte Evaluationskriterien: Der Leitfaden benennt acht konkrete Parameter – darunter Kfz-Aufkommen, Geschwindigkeiten, Bewegungslinien von Fußgänger*innen, Stellplatzauslastung und subjektive Einschätzungen durch Befragungen. Jeder Parameter ist hinsichtlich Aussagekraft, Aufwand und Nutzen bewertet.
  • Standardisierte Methodik für Vorher-Nachher-Vergleiche: Der Leitfaden erklärt anschaulich, wie Gemeinden einfache Erhebungen selbst durchführen können – mit konkreten Zeitfenstern, Checklisten, Erhebungsdesigns und Beispielgrafiken. So können auch kleinere Gemeinden ohne teure Studien valide Daten erheben.
  • Befragung als integraler Bestandteil: Der Leitfaden empfiehlt eine Mindestzahl von 50 Befragten und stellt standardisierte Fragen zur Verfügung – etwa zu Sicherheitsempfinden, Zufriedenheit mit dem Straßenraum oder dem Miteinander im Verkehr. Die subjektiven Einschätzungen ergänzen die harten Messdaten um die Perspektive der Bevölkerung.
  • Auswertung und Handlungsempfehlungen: Am Ende steht nicht nur ein Messwert, sondern eine umfassende Bewertung: Welche Ziele wurden erreicht? Wo besteht Nachbesserungsbedarf? Wo haben sich unerwartete Effekte gezeigt? Der Leitfaden hilft, diese Fragen datenbasiert zu beantworten und daraus konkrete Maßnahmen abzuleiten.

Durch die strukturierte, evidenzbasierte Herangehensweise schafft der Leitfaden Transparenz, Vergleichbarkeit und Nachvollziehbarkeit – sowohl für politische Entscheidungsträger*innen als auch für Bürger*innen.

Fazit: Planen auf Augenhöhe – mit Fakten, nicht nur mit Visionen
Die Einführung von Begegnungszonen ist ein wichtiger Schritt in Richtung fairer und lebenswerter Straßenräume. Die Studie zeigt: Begegnungszonen können wirken – insbesondere, wenn Gestaltung, Verkehrsführung und Kommunikation zusammenpassen. Gleichzeitig mahnen die Ergebnisse zur realistischen Einschätzung: Nicht jede Maßnahme wirkt automatisch positiv. Eine fundierte Evaluierung ist entscheidend – und dafür bietet der neue Leitfaden nun ein handhabbares Werkzeug.

Die Studie steht hier zum Download bereit:
PDF Download – Studie

Der Leitfaden steht hier zum Download bereit:
PDF Download – Leitfaden