Toter Winkel – tödliche Gefahr: Warum sind Ungeschützte oft unsichtbar?

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Wenn Schwerfahrzeuge mit den Schwächsten auf der Straße kollidieren, sind die Folgen des ungleichen physikalischen Duells meist fatal. Pro Jahr sterben in Österreich durchschnittlich 21 ungeschützte Verkehrsteilnehmer*innen nach einem Zusammenstoß mit einem Lkw. Eine KFV-Studie beleuchtet Unfallumstände und Gegenmaßnahmen: Technische Innovationen, verbesserte Verkehrsorganisation und intensivierte Bewusstseinsbildung sind gefragt. Sicherheit beginnt im Kopf aller Beteiligten: Wissen ist Macht, Achtsamkeit rettet Leben.

Nomen est omen: Der tote Winkel bedeutet tödliche Gefahr. All jene optischen Graubereiche rund um ein Fahrzeug, die vom Fahrersitz aus weder direkt noch indirekt einsehbar sind, bedeuten für dort befindliche Lebewesen potenziell tödliches Terrain. Je größer das Fahrzeug, desto größer seine toten Winkel – Schwerfahrzeuge bergen für die Schwächsten auf der Straße besonders großes Risiko. Wenn Lkw vor Rechtsabbiegemanövern ein Stück geradeaus fahren oder sogar links ausscheren müssen, um reibungslos um die Kurve zu kommen, wird dies oft voreilig als Linksabbiegen oder Geradeausfahren interpretiert. Ein fataler Irrtum.

Weitwinkel-Fahrzeugspiegel und innovative Kamerasysteme erweitern prinzipiell das Blickfeld von Bus- und Lkw-Lenker*innen, in der Praxis werden Menschen im Nahbereich von Schwerfahrzeugen dennoch viel zu oft übersehen – weil die Lenker*innen im Verkehrsfluss zum richtigen Zeitpunkt in den richtigen Spiegel oder auf den richtigen Bildschirm blicken müssen, um alles und alle rund um ihr Fahrzeug im Auge zu behalten. Die totale Kontrolle ist also pure Illusion – umso geschärfter müssen unsere Sinne für dieses Risiko werden. Das KFV (Kuratorium für Verkehrssicherheit) nahm die Umstände von Toter-Winkel-Unfällen unter die Lupe – und plädiert für die rasche Realisierung essenzieller Sicherheitsmaßnahmen.

Schwere Laster, schwere Folgen
Lkw-Unfälle haben meist schwere Folgen: Im Zeitraum 2015 bis 2019 starben jeder 5. getötete Fußgänger (21 %) und jeder 8. getötete Radfahrer (13 %) bei einem Unfall, an dem ein Lkw beteiligt war. 13 % der mit schweren Lkw (> 3,5 t) verunglückten Fußgänger*innen wurden getötet, 40 % schwer verletzt. 6 % der bei Kollisionen mit schweren Lkw verunfallten Radfahrer*innen kamen zu Tode, 27 % erlitten schwere Blessuren. Senior*innen sind besonders gefährdet: 60 % der bei Unfällen mit schweren Lkw getöteten Fußgänger*innen waren älter als 65 Jahre.

Toter-Winkel-Unfälle von Radfahrer*innen und Fußgänger*innen verlaufen jedoch unterschiedlich: Der „typische“ Toter-Winkel-Unfall mit Radfahrern ereignet sich beim Rechtsabbiegen des Lkw, jener mit Fußgängern hingegen beim Queren des Fußgängers unmittelbar vor dem Lkw.

Überforderte Lkw-Lenker, abgelenkte Fußgänger, rasende Radler
KFV-Fokusgruppen lieferten Einblicke in die Perspektive von Lkw-Lenker*innen: Besonders in engen Innenstadtstraßen sind Abbiegemanöver für Lenkende sperriger Schwerfahrzeuge fahrtechnische Herausforderungen. Den Lkw- und Bus-Lenker*innen ist die Problematik des Übersehens vulnerabler Verkehrsteilnehmer*innen bewusst, sie kritisieren jedoch das leichtsinnige Fehlverhalten von Fußgänger*innen und Radfahrer*innen, die knapp vor dem Schwerfahrzeug queren oder sich an der Kreuzung in nächster Nähe kaum wahrnehmbar „vorbeischummeln“. Fußgänger*innen seien außerdem oft unachtsam oder abgelenkt. Innovative Fahrerassistenzsysteme werden von Lkw-Lenker*innen ebenso begrüßt wie Maßnahmen zur Erhöhung der Übersichtlichkeit an Kreuzungen, wie etwa eine Phasentrennung der Lichtsignale für Fußgänger-, Fahrrad- und Kfz-Verkehr.

Schutz den Ungeschützten: Maßnahmen für mehr Sicherheit
Das Sichtfeld erweiterndes Fahrzeugdesign, innovative Technologien zur Detektion von Ungeschützten und ein Umdenken bei der Gestaltung von Straßenraum und Verkehrsführung verringern die Gefahr des toten Winkels. Das A & O aller Maßnahmen ist Bewusstseinsbildung – denn Sicherheit beginnt im Kopf.

  • Optimierung der Fahrzeugausstattung – hilfreiche Innovationen:

    • Verbesserung der direkten Sicht: Gemäß der neuen EU-Typgenehmigungsverordnung müssen Lkw und Busse so konstruiert sein, dass die direkte Sichtbarkeit ungeschützter Verkehrsteilnehmer*innen vom Fahrersitz aus verbessert wird.
    • Spiegelsysteme für indirekte Sicht: Laut EU-Vorgabe müssen Lkw sowohl mit großen Hauptaußenrückspiegeln als auch mit Weitwinkel- sowie Nahbereichs-/Anfahrspiegeln und bei zulässigem Gesamtgewicht von mehr als 7,5 Tonnen auch mit Frontspiegeln ausgerüstet sein. Studien zeigen aber: Diese Spiegel sind oft falsch eingestellt. Hier besteht Handlungsbedarf in puncto Bewusstseinsbildung und Kontrolle.
    • Kamera-Monitor-Systeme: Auf Bildschirmen werden die nicht direkt einsehbaren Bereiche rund um den Lkw für die Lenkenden sichtbar gemacht. Vorteil der Kameras: unverzerrte Darstellung und bessere Kontrolle, unabhängig von der Sitzposition.
    • Abbiegeassistenzsysteme: Auf Basis von Ultraschall- oder Radar-Technologie weisen Abbiegeassistenzsysteme Lenkende mittels eines Warntons oder -lichts auf andere in der Nähe befindliche Verkehrsteilnehmer*innen hin.
    • Notbremsassistenzsysteme: Hier bremst die Technik das Fahrzeug vor einem drohenden Zusammenstoß rechtzeitig ab. Top-Systeme bieten Fußgänger- und Radfahrererkennung.
    • Rückfahrassistenzsysteme: Das Kamerabild zeigt hinter dem Fahrzeug befindliche Personen und Objekte und deren Abstand. Bei Annäherung ertönt ein schneller werdender Piepton.
    • Assistenzsysteme zur Überwachung des Frontbereichs beim Anfahren: Lebensrettend innovativ und gemäß der EU-Typgenehmigungsverordnung auch schon bald vorgeschrieben sind Systeme, die unmittelbar vor dem Fahrzeug befindliche Personen erkennen. Derzeit sind diese Systeme allerdings noch nicht erhältlich.
  • Optimierung der Verkehrsorganisation – die bewährtesten Methoden:
    • Zeitlich getrennte Grünphasen: Eigene Ampelphasen für den rechts abbiegenden Verkehr verhindern Konflikte zwischen abbiegenden Kfz und Fußgänger*innen bzw. Radfahrer*innen.
    • Prinzipielle Trennung von Schwerverkehr und Rad-/Fußverkehr: Die Zulassung des Schwerverkehrs nur auf Straßen und/oder in zeitlichen Phasen mit wenigen Radfahrenden und Zufußgehenden ist eine verschärfte Schutzmaßnahme für die Schwächsten im Verkehr.
    • Verkehrsbeschränkungen und Fahrverbote für Schwerfahrzeuge ohne Assistenzsysteme: Rechtlich möglich sind auch Fahrverbote, Rechtsabbiegeverbote und andere Beschränkungen für Schwerfahrzeuge ohne bestimmte Sicherheitsausstattung.
    • Tempolimit beim Abbiegen: In Deutschland dürfen Kfz über 3,5 Tonnen auf Innerortsstraßen mit Fußgänger- und Radverkehr beim Rechtsabbiegen nur noch Schrittgeschwindigkeit fahren.
    • Bike Box: Ein vorgezogener Wartebereich für Radfahrer*innen vor der Haltelinie des motorisierten Verkehrs ist die sogenannte „Bike Box“. Zur Heranführung der Radler*innen eignet sich ein Radfahr- oder Mehrzweckstreifen. Von dieser Maßnahme profitieren allerdings nur bei Rot eintreffende Radfahrer*innen.
    • Vorgezogene Grünphasen für Fußgänger*innen und Radfahrer*innen: Für erhöhte Sichtbarkeit von Ungeschützten an lichtsignalgeregelten Kreuzungen sorgen auch vorgezogene Grünphasen für Fußgänger*innen und Radfahrer*innen – sie erhalten 3 bis 6 Sekunden früher grünes Licht als der Kfz-Verkehr.
    • Bodenmarkierungen an Kreuzungen: Piktogramme mit Hinweisen auf die Gefahr des toten Winkels sollen Radfahrer*innen und Kfz-Lenker*innen sensibilisieren und auf rechts abbiegende Lkw aufmerksam machen.
    • Warnschilder, Blinklichter, Bodenmarkierungsleuchten sowie akustische Warnsignale – jeweils mit oder ohne Detektion – sorgen ebenfalls für mehr Wachsamkeit. 

Kampf dem toten Winkel – essenzielle KFV-Empfehlungen:

  • Forcierung des Einbaus von Assistenzsystemen: Nachrüstung und frühere serienmäßige Ausstattung aller Neufahrzeuge mit Abbiegeassistenzsystemen – optimalerweise in Kombination mit Notbremssystemen – sind ein Muss.
  • Phasentrennung an lichtsignalgeregelten Kreuzungen: Konflikte zwischen abbiegenden Schwerfahrzeugen und den Schwächsten auf der Straße können damit verhindert werden.
  • Freihaltung von Kreuzungsbereichen: Ausweitung des Halte- und Parkverbots, wo erforderliche Sichtweiten für Fußgänger*innen/Radfahrer*innen nicht gegeben sind
  • Ausbau des Radverkehrsnetzes: Minimierung des Unfallrisikos durch ein sicheres, geschlossenes und engmaschiges Radverkehrsnetz
  • Bewusstseinsbildung: Lebensrettende Bewusstseinsbildung rund um die Problematik des toten Winkels sollte bereits im Rahmen der Verkehrs- und Mobilitätsbildung im Kindergarten beginnen und in der Volksschule – etwa im Zuge der Vorbereitung auf die freiwillige Radfahrprüfung – intensiviert werden. Aktionen an Schulen können die eingeschränkte Sicht aus dem Cockpit eines Lkw für Kinder selbst erlebbar machen. Im Lehrplan der Kfz-Führerscheinausbildung aller Klassen sollte die Problematik des toten Winkels thematisiert werden, ebenso bei Aus- und Weiterbildungen von Berufskraftfahrer*innen. Lkw-Lenker*innen sollten – etwa durch Aktionen in Betrieben, auf stationären und mobilen Spiegeleinstellplätzen und bei Neufahrzeug-Schulungen – auf die Wichtigkeit richtig eingestellter Spiegel hingewiesen werden.
  • Polizeiliche Kontrollen der Spiegeleinstellung: Korrekte Spiegeleinstellung sollte häufiger als bisher Teil routinemäßiger Schwerfahrzeug-Kontrollen der Exekutive sein.

Hier der Download-Link zur KFV-Studie:
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