Reißverschlusssystem und Vorrangregeln im Radverkehr – wie funktioniert´s?

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Die seit 1.4.2019 geänderten Vorrangbestimmungen an Kreuzungspunkten mit Radfahranlagen sorgen vielerorts noch für Unsicherheiten.

Dr. Armin Kaltenegger: „Radfahrer leben gefährlich.“ Foto: KFV

Die Details der Unfallstatistik zeugen von den besonders prekären Gefahren an Kreuzungen: Jede zweite Kollision zwischen Radfahrern und Kfz im Ortsgebiet ist auf eine Vorrangverletzung oder Rotlichtmissachtung als Hauptunfallursache zurückzuführen. Bei solchen Unfällen wurden in den letzten fünf Jahren (2014–2018) 7.361 Radfahrer verletzt, 21 starben. In vier von fünf Fällen waren die Hauptunfallverursacher Kfz-Lenker. Klare Sache: Hauptleidtragende im ungleichen Kräfteverhältnis dieser Kollisionen sind immer die ungeschützten Verkehrsteilnehmer.

Die neuen Vorrangregeln der 30. StVO-Novelle im Detail

Durch die Gesetzesänderung ergibt sich beim Zusammentreffen von Radfahrern mit anderen Fahrzeugen in vielen Fällen eine völlig neue Beurteilung von Vorrang und Wartepflicht. Bisher galt beim Verlassen von Radfahranlagen (das sind Radfahrstreifen, Mehrzweckstreifen, Radfahrerüberfahrten, Radwege sowie Geh-&Radwege) immer ein gesetzlicher Sondernachrang: Radfahrer hatten also in derartigen Situationen Wartepflicht gegenüber anderen Fahrzeugen im fließenden Verkehr. Diese Regel wurde fast gänzlich abgeschafft, indem sie auf einen Anwendungsfall reduziert wurde: Die Wartepflicht bezieht sich ausschließlich auf das Verlassen von Radwegen bzw. Geh- und Radwegen, die nicht durch eine Radfahrerüberfahrt fortgesetzt werden. Endet ein Radfahrstreifen, so kommt seit 1.4.2019 hingegen das Reißverschlusssystem zur Anwendung.

Wie funktioniert das Reißverschlusssystem?

Der Radfahrer muss sich auch im Rahmen des Reißverschlusssystems davon überzeugen, ob der auf dem durchgehend befahrbaren Fahrstreifen Fahrende ihm das Einordnen ermöglicht. Ist dies nicht der Fall, darf er den Fahrstreifen nicht wechseln. Der am durchgehend befahrbaren Fahrstreifen fahrende Lenker wiederum ist verpflichtet, den Fahrstreifenwechsel zuzulassen (z. B. durch Verminderung der Geschwindigkeit oder Anhalten) und das Verkehrsgeschehen vor seinem Fahrzeug zu beobachten. Bei Aufeinandertreffen einzelner Fahrzeuge – oder der jeweils ersten Fahrzeuge von Kolonnen – gilt der sogenannte Spurenvorrang: Der auf einem endenden Fahrstreifen fahrende Lenker hat dem auf dem fortgeführten Fahrstreifen fahrenden Lenker die Vorfahrt zu überlassen. Je nach Verkehrssituation kann dem auf dem Radfahrstreifen fahrenden Radfahrer somit ein Vorrang zukommen – oder aber eine Wartepflicht.

Vorrangregeln beim Zusammentreffen mit Radfahrern – Überblick

  NEU (seit 1.4.2019) ALT (bis 30.3.2019)
1.   Überqueren einer Radfahrerüberfahrt Wie bisher, keine Änderung. Lenker anderer Fahrzeuge (Ausnahme Schienenfahrzeuge) müssen vor einer Radfahrerüberfahrt anhalten, um einem Radfahrer, der sich auf der Überfahrt befindet oder diese erkennbar benützen will, dasungefährdete Überqueren der Fahrbahn zu ermöglichen.
2.   Radweg bzw. Geh- und Radweg endet, keine Radfahrerüberfahrt Wie bisher, keine Änderung. Nachrang des Radfahrers
3.   Radweg bzw. Geh- und Radweg durch Radfahrerüberfahrt fortgesetzt, Radfahrer biegt weg von der Radfahrerüberfahrt Allgemeine Vorrangregeln

(insb. Rechtsregel, „Vorrang“ des Radfahrers auf der Radfahrerüberfahrt)

Nachrang des Radfahrers
4.   Radfahrstreifen (Mehrzweckstreifen) endet bzw. Hindernis am Radfahrstreifen Reißverschlusssystem: Radfahrer ordnen sich gleichberechtigt mit Autofahrern in den Fließverkehr ein. Nachrang des Radfahrers
5.   Wechsel vom Radfahrstreifen (Mehrzweckstreifen) auf danebenliegenden Fahrstreifen (z.B. Einordnen zum Linksabbiegen) Fahrstreifenwechsel: Die Radfahrer dürfen sich nur auf dem danebenliegenden Fahrstreifen einordnen, nachdem sie sich davon überzeugt haben, dass dies ohne Gefährdung oder Behinderung anderer Straßenbenützer möglich ist. Nachrang des Radfahrers
6.   Radfahrer fährt geradeaus über die Kreuzung auf durchgezogenem Radfahrstreifen, Kfz biegt rechts ab

 

Praktisches Fallbsp.: Einbiegen aus Radfahrerüberfahrt nach Radweg

Fakten:

  • Vor 1.4.2019 galt für solche Fälle die Wartepflicht des Radfahrers (vgl. linkes Bild).
  • Seit 1.4.2019 kommen hier die allgemeinen Vorrangregeln zur Anwendung. Zum Zeitpunkt der Begegnung der beiden Fahrzeuge ist der Radfahrer der Rechtskommende, nach der Rechts-Vorrang-Regel hat hier daher der Radfahrer Vorrang (vgl. rechtes Bild).

Zu beachten:

  • Anders wäre es, wenn es sich hier um einen Radfahrstreifen handelte – denn dann sind die Regeln über den Fahrstreifenwechsel anzuwenden.
  • Es besteht das Risiko des toten Winkels, Radfahrer sind der Gefahr ausgesetzt, übersehen werden. Ein schrittweises Vorantasten des Radfahrers ist anzuraten.

KFV-Empfehlungen: Schulung, Vorsicht & Rücksicht

Machen Sie sich und Ihre Kinder mit den neuen Regeln vertraut! Neben einer guten Normkenntnis ist jedoch auch der persönliche Fahrstil für die Verkehrssicherheit entscheidend. Das KFV mahnt daher Radfahrer und Kfz-Lenker zu besonderer Achtsamkeit, Vorsicht und Rücksichtnahme gerade an Kreuzungspunkten. Halten Sie selbst die Verkehrsregeln ein und fahren Sie eindeutig, vorausschauend und berechenbar. Fahren Sie defensiv! Erhöhen Sie Ihre Sichtbarkeit (Licht; auffällige, helle, bei Dunkelheit auch reflektierende Kleidung), damit Sie besser wahrgenommen und als Radfahrer erkannt werden. Und vergessen Sie nicht: Ein Helm kann Leben retten! 

Link:

Weitere Infos siehe auch die KFV-Infobroschüre „Rechtsvorschriften für Radfahrer“ unter https://www.kfv.at/wp-content/uploads/2019/09/ReVoRaFa-2019-GESAMT-100×148.pdf